So schaffst du eine enge Bindung und liebevolle Beziehung zu deinem Kind
Kennst du den Satz: „Schreien ist gesund – das stärkt die Lungen.“
Solche unmenschlichen Aussagen halten sich hartnäckig, obwohl sie aus heutiger Sicht vollkommen falsch sind.
Gerade in den ersten Lebensjahren braucht dein Kind etwas ganz anderes: eine tiefe, verlässliche Bindung.
Denn genau diese erste Bindung legt die Grundlage dafür, wie dein Kind später sich selbst, andere Menschen – und die Welt erlebt.
Und ob es selbst überhaupt in der Lage sein wird, enge, vertrauensvolle Beziehungen zu führen, die auf echtem Vertrauen basieren.
Raik Garve bringt es auf den Punkt: „Unsere menschliche Natur ist eine Bindungsnatur. Wir sind soziale Bindungswesen.“
Doch wie entsteht diese so wichtige Bindung? Und wie kannst du sie als Mutter oder Vater ganz bewusst stärken?
Warum die ersten Jahre so entscheidend sind
Menschenbabys kommen unreif auf die Welt.
Sie waren neun Monate lang im Bauch der Mutter innig verbunden: gewiegt vom Atemrhythmus der Mutter, gewärmt von ihrem Leib, umgeben von vertrautem Herzschlag, geschützt, satt, sicher.
Mit der Geburt verändert sich schlagartig alles. Was dein Baby jetzt am meisten braucht, die Fortsetzung dieser Bindung durch direkten Hautkontakt.
Haut-zu-Haut-Kontakt unmittelbar nach der Geburt ist nicht nur schön, sondern biologisch notwendig:
Er stabilisiert Atmung und Herzschlag, reguliert die Körpertemperatur und stärkt die Ausschüttung von Oxytocin – dem Bindungshormon (Brisch, 2009).
Das Kind erlebt: Ich bin sicher. Hier gehöre ich hin.
Diese Erfahrung ist der erste Baustein für die spätere Fähigkeit, sich selbst als wertvoll und die Welt als vertrauenswürdig zu erleben (Bowlby, 1958).
Wird diese Erfahrung durch frühes Weglegen, Schreienlassen oder Isolation gestört, prägt sich Unsicherheit tief im Nervensystem ein.
Die sechs Stufen der Bindung
Bindung entwickelt sich nicht plötzlich, sondern in Stufen – und zwar aufeinander aufbauend.
Das Modell der sechs Stufen wurde von Gordon Neufeld entwickelt und erklärt, warum Kinder unterschiedliche Formen von Nähe und Beziehung brauchen (Neufeld, zitiert bei Garve, 2024).
Je mehr du als Mutter oder Vater diese Entwicklung verstehst und begleitest, desto besser kannst du deinem Kind geben, was es wirklich braucht:
1. Bindung über körperliche Nähe
In den ersten Monaten braucht dein Baby Nähe, Berührung, Hautkontakt. Es ist ein Tragling – getragen zu werden ist sein uraltes Bedürfnis nach Sicherheit und Verbindung.
2. Bindung über Gleichheit
Etwa ab dem zweiten Lebenshalbjahr beginnt dein Kind Mimik, Gestik und Laute nachzuahmen. Es möchte „gleich“ sein, Teil eures kleinen Familiensystems.
3. Bindung über Loyalität und Zugehörigkeit
Mit etwa 2–3 Jahren erkennt dein Kind bewusst, wo es dazugehört: „Das ist meine Mama. Das ist meine Familie.“
Es entwickelt Gruppenzugehörigkeit.
4. Bindung über Wertschätzung und Anerkennung
Nun wächst das Bedürfnis, gesehen und anerkannt zu werden: „Schau mal, Mama, was ich gemalt habe!“
Positive Rückmeldungen stärken das Selbstwertgefühl.
5. Bindung über Liebe und Gefühle
Im Vorschulalter beginnen Kinder, ihre Zuneigung aktiv auszudrücken: „Ich hab dich lieb.“
Hier entsteht emotionale Intimität.
6. Bindung über seelische Verbundenheit
Die reifste Stufe: Dein Kind bleibt innerlich mit dir verbunden, auch wenn du nicht anwesend bist. Es entwickelt das Vertrauen: „Du bist für mich da, auch wenn ich dich gerade nicht sehe.“
Diese Stufen bauen aufeinander auf.
Wird eine Stufe nicht ausreichend genährt, bleibt die Bindungsentwicklung stecken.
Ein Kind, das z. B. nie genügend körperliche Nähe erfahren hat, kann auf späteren Stufen keine stabile emotionale Nähe aufbauen.
Was zerstört Bindung?
Hier ein Bild, das viele Kinder heute leider erleben:
Ein Kind war neun Monate lang im Bauch seiner Mutter geborgen – gewiegt, gewärmt, umgeben von vertrauten Geräuschen.
Dann kommt es auf die Welt … und wird:
- allein in ein Bettchen gelegt, statt auf den Leib der Mutter
- weggegeben in eine Betreuung, noch bevor die Bindung gereift ist
- Schreien gelassen, weil „das trainiert das Einschlafen“ oder „stärkt die Lungen“
→ Tatsächlich erhöht es den Cortisolspiegel und prägt tiefes Misstrauen (Brisch, 2009) - nicht gestillt, obwohl es Hunger oder Nähe signalisiert, weil Ratgeber propagieren: „Feste Stillzeiten sind wichtig.“
- bei Impfungen festgehalten, während der kleine Leib Schmerz erfährt und die Bezugsperson das Geschehen nicht verhindert – für das Kind ein massiver Vertrauensbruch (Garve, 2024)
Was das Kind erlebt: Ich bin allein. Ich bin ausgeliefert. Ich kann mich auf niemanden verlassen.
Weitere bindungsschädigende Einflüsse sind:
- Ignorieren von Bedürfnissen
- Unberechenbares Verhalten der Bezugspersonen: mal liebevoll, mal abweisend
- Emotionale Kälte oder Überforderung der Mutter
- Unsicherheit der Mutter
- Zu frühe Fremdbetreuung
- Mangelnde Sicherheit durch unklare Grenzen
Jedes dieser Erlebnisse hinterlässt Spuren im Nervensystem des Kindes – und beeinflusst zutiefst, wie es später in Beziehungen agieren kann.
Dein wichtigster Kompass: Deine eigene Intuition
Viele Eltern fragen: Was ist richtig?
Die Antwort lautet: Dein wichtigster Kompass ist deine eigene Intuition!
Doch: Damit du die Signale deines Kindes wirklich wahrnehmen und feinfühlig beantworten kannst, brauchst du einen guten Zugang zu dir selbst.
Wenn du von Stress, Unsicherheit oder Selbstzweifeln getrieben bist, wird es schwer, intuitiv und präsent für dein Kind da zu sein.
Deshalb ist es so wichtig, dass du dich selbst gut nährst, dich reflektierst, dich mit deiner eigenen Geschichte auseinandersetzt.
Je klarer du bei dir bist, desto klarer wirst du spüren, was dein Kind wirklich braucht.
Und glaube keinem Ratgeber, der dich von diesem inneren Wissen abbringen will. Du kannst dich inspirieren lassen, aber bitte hinterfrage und teste selbst aus, was für dich und dein Kind funktioniert und vor allem, was sich „richtig“ anfühlt.
Fazit
Eine enge, sichere Bindung ist das größte Geschenk, das du deinem Kind machen kannst.
Sie bestimmt, ob dein Kind Urvertrauen entwickeln kann – oder sein Leben aus Mangel und Unsicherheit heraus gestaltet.
- Bindung entsteht in den ersten Jahren – durch dein echtes DA-Sein.
- Nur wenn die Bindungsbedürfnisse erfüllt sind, kann dein Kind später in Freiheit und Selbstbestimmung wachsen.
- Viele Verhaltensauffälligkeiten haben ihre Wurzel in einer zu frühen, nicht ausreichenden Bindungssättigung.
- Deine Intuition ist dein bester Wegweiser. Höre auf dein Herz – nicht auf starre Erziehungsdogmen.
Wie Raik Garve es beschreibt:
„Bindung ist Liebe. Liebe ist Verbundenheit. Und diese Verbundenheit heilt.“
Literaturverzeichnis
- Bowlby, J. (1958). The nature of the child’s tie to his mother. International Journal of Psychoanalysis.
- Brisch, K. H. (2009). Bindungsstörungen. Von der Bindungstheorie zur Therapie. Klett-Cotta.
- Garve, R. (2024). Gesundheitsverständnis und Bindungsnatur des Menschen. Vortrag und Interview.
- Neufeld, G. (2004). Hold on to Your Kids. (zitiert bei Garve, 2024).